Wer je Gelegenheit hatte, diesem Manne mit dem feingeschnittenen Künstlerkopf und dem eigentümlich forschenden Blick jenseits seiner Wirkungsstätte zu begegnen, der konnte sofort verspüren, daß ihm die Kunst nicht nur Betätigungsfeld seiner in strengste Zucht genommenen Begabung bedeutet, sondern darüber hinaus umfassenden Ausdruck des Lebens selber. Dieses Leben aber versteht sich hier als ständig wachsende Summe menschlicher Erfahrungen. In seiner großen Veranlagung erkennt Schuricht eine Verpflichtung, und zwar in der Richtung menschlich geistiger Übermittlung, welche die künstlerische Aussage nicht im Selbstzweckhaften beläßt, sondern sie einer Allgemeinheit zugänglich zu machen unternimmt.
Eine solche Einstellung zum Problem der Kunst bestimmte auch die persönliche Entwicklung Carl Schurichts, des heute 76jährigen. Der Kreis der international berühmten Dirigenten ist nach dem Hinscheiden von Furtwängler und Kleiber, Clemens Krauss und Toscanini um gewichtige Erscheinungen verringert worden. Außer Bruno Walter und Klemperer lebt heute nur noch Schuricht, der zum Stamm jener alten Garde gehört, die noch ein unmittelbares Verhältnis zur klassischen Tradition auszeichnet. Doch muß gleich hinzugefügt werden, daß Schuricht - Kleiber und Klemperer ähnlich - den Blick auch auf das gegenwärtige Schaffen gerichtet hielt.
Das führte zwangsläufig zu einer inneren Bereicherung, zu einer kühnen Erweiterung des Gesichtsfeldes, die das bisher Gültige in den Werken der Klassiker aus konventioneller Überlieferung befreite, ohne damit dem Wesen dieser Musik auch nur im mindesten Abbruch zu tun. Ganz im Gegenteil: ein Lebensstrom wurde hier spürbar, der die formalen Ordnungen unter ein Ausdrucksgesetz stellte, das mit unserer eigenen Vorstellung korrespondiert. Das betrifft bei Schuricht beispielsweise seine ihm heute besonders am Herzen liegende Pflege der Sinfonik Anton Bruckners.
Die Möglichkeit zu einer solchen entscheidenden Leistung, ähnlich der seines starken und stetigen Eintretens für Gustav Mahler, beruht bei Schuricht nicht nur in jener großartig distanzierten Überschau des jeweiligen Werkorganismus, sondern birgt ihre Ursache auch in seiner Herkunft. Schuricht, der in Danzig Geborene, stammt mütterlicherseits von polnischen Vorfahren ab. Dieser polnische Funke entzündete in ihm eine musikalisch ungewöhnlich regsame Geistigkeit, und zwar von der Art eines Nichtschwerwerdens über den Dingen, ohne damit die natürlichen Gewichtsspannungen zu beeinträchtigen. Mit diesem gesunden Sinn für die musikalisch-logische Entwicklung paart sich ein starkes Gefühl oder Bewußtsein für die Anschaulichkeit der Vorgänge selber, eine musikantische Aufgeschlossenheit gegenüber den klanglichen Gegebenheiten, gleichsam eine Kunst der Deklamation aus der Art jeder Instrumentengruppe her, deren Differenziertheit im gesamten sich zu einer Polyphonie der Farben zu steigern vermag. So scheint es nicht verwunderlich, daß Schuricht nicht nur den monumentalen Aufbau einer Brucknersinfonie oder das vielgliedrige Fresko einer Mahlersinfonie meisterlich zu raffen imstande ist, sondern auch in der Darlegung von Werken französischer Impressionisten wie etwa Debussys oder Ravels Außergewöhnliches gibt.
Neben einer souveränen Beherrschung der verschiedenen orchestralen Stile - wir erwähnen Schurichts wunderbar geschlossene Beethovenauffassung oder die Wiedergabe der vier Brahmssinfonien mit ihrer vielfältig durchleuchteten landschaftlichen Hintergründigkeit - wäre noch des hervorragenden Chordirigenten zu gedenken. Das Abwägen der einzelnen Stimmgattungen auf der Basis kammermusikalisch verzweigter Orchesterbegleitung schafft hier einen Spannungsbereich zwischen dem Vokalen und Instrumentalen von ungewöhnlicher Ausdrucksintensität. Es sei in diesem Zusammenhang auf die für den NDR besorgte Bandaufnahme des "Deutschen Requiems" von Brahms hingewiesen. Schurichts geniale Fähigkeit äußerster Konzentration auf das Essentielle der Interpretation aufleuchten, das einer Würdigung bedarf.
Es ist vielleicht die höchste Tugend Schurichts, daß er sich als unablässig Strebender stets mit Ehrfurcht jedem Kunstwerk nähert, daß er nicht von absolut feststehenden Maßstäben ausgeht, sondern daß seine künstlerische Erkenntnis und Erfahrung in jener Vielschichtigkeit gründet, die jedem bedeutenden Kunstwerk innewohnt. Dieses Wissen kann ihn beständig zu neuen Orientierungen führen, und man gewinnt trotzdem jedesmal wieder den Eindruck letzter Überzeugungstreue. Diese stetige innere Wandlungsbereitschaft aber ist Merkmal echter Interpretationsweise. Sie bedingt nämlich die Ablehnung des sogenannten "gesicherten Werkbesitzes" als eines Dauerzustandes, weil sie sich der inspirativen Kraft der Phantasie im Zeichen geisterfüllter Disziplin als eines unwägbaren Begriffs unterwirft, der jedesmal und immer wieder von neuem den subjektiven Elan mit objektivierter Ausdrucksgebung zu verschmelzen trachtet. Dieses dynamische Spiel der Kräfte zwischen der Entfaltung des Erlebten und seiner Umwandlung in die symbolhafte Gestaltung, wie es bei Schuricht stets zum erregenden Ereignis seiner Deutung wird, macht von vornherein alle bloß theoretischen Erwägungen auch bezüglich der geforderten Stilistik zunichte, speist sich nicht nur am Atem des Vorliegenden und Darzustellenden, sondern erfüllt diesen auch mit der persönlichen Glut des wahrhaft Eingeweihten.
Um dieses Geheimnis der Transzendenz kreist die Künstlerschaft Schurichts als eines der spätesten und markantesten Vertreter des 19. Jahrhunderts und seiner geistigen Erbschaft. Sie bleibt nicht bloß am Buchstaben haften, nicht nur in einer artistischen Paradeleistung befangen, sondern bringt von sich aus jenes gewichtige Etwas mit, das nicht allein durch die Notenzeichen fixiert werden kann, sondern zur Verkündung drängt, die nur aus der echten Versenkung in die abstrakten Chiffren beschworen werden kann. Das aber erfordet einen magischen Vorgang, nämlich den der Übersetzung in den bildhaften Klang. In diesem Sinne sind alle wahrhaft berufenen Musikinterpreten Magier oder Verzauberer in eine Wirklichkeit, deren Existenz nur im "Hörbaren" gründet und damit von einer Ordnung berichtet, die einzig und allein das Wesen der Musik ausmacht. Das Objekt der Musik ist sie selbst. Um es zu heben, bedarf es des subjektiven Griffes von seiten ihres Erweckers.
CARL SCHURICHT
Zum Schluß seien dieser Betrachtung noch einige Daten über den Entwicklungsgang Schurichts angefügt. Seine Studien absolvierte er in Berlin bei Ernst Rudorff, Engelbert Humperdinck und Max Reger. Von 1901 bis 1902 war er Korrepetitor am Stadttheater in Mainz, von 1907 bis 1908 Kapellmeister am Stadttheater in Zwickau und von 1912 bis 1944 städtischer Musikdirektor in Wiesbaden, außerdem Dirigent der Rühlschen Gesangsvereinigung in Frankfurt am Main. Viele Gastreisen brachten ihn nicht nur nach Berlin an das Philharmonische Orchester, sondern auch ins Ausland, so vor allem nach Scheveningen in Holland, wo er alljährlich das Concertgebouw-Orchester leitete. Heute lebt er in Corseaux/Vevey in der französischen Schweiz. An Ehrungen empfing er u. a. 1948 die niederländische Brucknermedaille und 1949 die internationale Brucknermedaille. 1953 wurde er Ehrenbürger der Stadt Wiesbaden.
Frank Wohlfahrt
Neue Zeitschrift für Musik 118, 226-227 (1957)