Carl Schuricht 70 Jahre

Schier fünfundzwanzig Jahre ist es her, daß er zum ersten Mal an das Pult der Berliner Philharmoniker trat. Es war die Zeit, da an großen Dirigenten, an hohen und höchsten Vergleichsmaßstäben kein Mangel war. Aber der schmale Mann mit dem scharf konturierten Gesicht, der klaren Stirn, dem fein gezeichneten Nasenrücken und den unsagbar lebendigen Augen prägte sich unauslöschlich ein. Geistige Intensität, souveräne Menschlichkeit strahlten von seiner Erscheinung und seinem Musizieren gleichermaßen aus. Im Bewußtsein der Öffentlichkeit war sein Name fortan identisch mit der besten Tradition, der edelsten Kultur deutschen Dirigententums.

Er kam, wie alle anderen, aus der sogenannten "Provinz" - aus einer verhältnismäßig kleinen Stadt sogar, nämlich aus Wiesbaden. Dort war er, der geborene Danziger, Sprößling einer alten Orgelbauerfamilie, aufgewachsen, bevor er an der Berliner Musikhochschule Zögling von Rudorff und Humperdinck wurde. Dann tauchte er wieder unter, als Theaterkapellmeister kleiner Bühnen - die harte, unvermeidliche Handwerksschule des Dirigenten. Als die Wiesbadener sich den 32jährigen zurückholten, ihn zum Städtischen Musikdirektor machten, zeigte sich, was er vermochte. Im Handumdrehen wurden die Sinfoniekonzerte nach Programmgestaltung und Aufführung zu einem der lebendigsten Zentren des deutschen Musiklebens. Trotzdem, oder gerade deswegen, fällt es uns schwer, ihn uns als Stürmer und Dränger vorzustellen. Äußere Suggestionsmittel hat er nie gekannt und nie benötigt. Seit je eignete seinem Musizieren eine wunderbare Ausgewogenheit, eine legitime Reife.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde nicht nur Berlin auf ihn aufmerksam. Das Ausland rief ihn. Seit zwanzig Jahren leitet er allsommerlich die holländischen Festspielwochen in Scheveningen, Stockholm, London, Wien folgten und, vor allem, Athen. Schließlich vertrieb ihn das dritte Reich vollends aus der Heimat. In der Schweiz fing er von vorne an. Viel zu sporadisch ist er seither wieder bei uns erschienen.

Zwei Jahre leitete er, als Nachfolger von Siegfried Ochs, den Philharmonischen Chor in Berlin - zwei unvergeßliche Jahre. Wenige verbinden so wie er die Alfresko-Gebärde der Chorleitung und die subtile der Orchesterleitung. Keiner ließ uns so wie er den "Einsiedler" von Reger mit aller Verhaltenheit, aller Sensibilität eines deutschen Impressionismus erleben. Keiner wurde zum überzeugenderen Sachwalter Rudi Stephans als er. Von den frühen Sinfonien Mozarts bis zum späteren Mahler, Beethoven, Brahms, Bruckner - alles ersteht ihm mit einer Selbstverständlichkeit, einer musikalischen und geistigen Prägnanz, die der jüngeren Generation in solcher Universalität nicht mehr beschieden sind. Zugleich aber hat er, wie wenige seiner Generation, den Glauben an, die überzeugende Erlebnisfähigkeit für das Junge, das Heute. Und er hat, was mehr ist, den untrüglichen Spürsinn für das Spontane daran. Ob es das "Allégro sinfonique" von Marcel Poot ist oder die "Konzertante Musik" von Boris Blacher, bei deren Uraufführung in der Berliner Philharmonie die Hörer eine sensationelle Wiederholung vom Fleck weg erzwangen - immer traf er den Nagel auf den Kopf.

So wurde er, in vier Jahrzehnten, allein durch die Kraft seiner Persönlichkeit, zu einem der vorbildlichen Gestalter des deutschen Musiklebens. Als solchem dankt es dem Siebzigjährigen nicht ohne Bedauern, daß es ihn an die größere Welt verlor.

Fred Hamel

Musica 4 (9), 362-363 (1950)


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