Unsere Künstler.

Karl Schuricht.

GELEGENTLICH einer biographischen Skizze Arthur Bodanzkys wurde in der "Neuen Musik-Zeitung" hervorgehoben, daß die Mehrzahl bedeutender Dirigenten der Neuzeit Oesterreicher von Geburt seien. Um so erfreulicher, wenn auch immer wieder rein deutsche große Talente auf diesem Gebiete der Kunst emporblühen, die deutschen Idealismus, deutsche Innigkeit des Empfindens in all ihr Wirken tragen. Ein solches bedeutendes Talent, das noch weiterhin von sich reden machen wird, möchten wir heute beleuchten.

Bekanntlich fiel, als vor zwei Wintern der Rühlsche Gesangverein zu Frankfurt a. M. als Nachfolger von Siegfried Ochs, dem zu viel künstlerische Verpflichtungen auf den Schultern lasteten, einen neuen Dirigenten suchte, die Wahl unter 139 Bewerbern auf Karl Schuricht, bis dahin Musikdirektor in Goslar. Seitdem haben die Aufführungen des Rühlschen Vereins ständig eine ungeminderte Anziehungskraft ausgeübt, die Konzerte tragen ein nicht nur vornehmes, sondern geradezu mustergültiges Gepräge, der junge Dirigent verstand es, die straffste Disziplin aufrechtzuerhalten. Auch aus sämtlichen Nachbarstädten strömt das Publikum den Rühlschen Konzerten zu, die durchweg ausverkaufte Häuser zeigen. Außer klassischen Werken (Missa solemnis, Schöpfung, Bach-Kantaten usw.) brachte Schuricht vollendete Aufführungen von Regers 100. Psalm, Kinderkreuzzug (Pierné), "Vita Nuova" von Wolf-Ferrari, Seadrift von Delius usw., kürzlich die Taubmannsche Messe.

Jetzt, da Wiesbaden sich gratulieren darf, in Schuricht einen außergewöhnlich tüchtigen ersten Kurkapellmeister, mit dem Titel: städtischer Musikdirektor, gewonnen zu haben, mag es von allgemeinem Interesse sein, einen kurzen Rückblick auf den Werdegang des Künstlers zu tun, der sich auch in Wiesbaden schon die größten Sympathien erworben.

Karl Schuricht, 1880 zu Danzig als einziger Sohn eines Organisten und Orgelbauers geboren, - der Vater verunglückte kurz vor der Geburt des ersten Kindes beim Transport einer Orgel auf der Ostsee, im Bemühen, einen Gefährten aus den Wellen zu retten, - hatte eine einsame, entbehrungsvolle Jugend. Mehr als von sonstigen Kinderspielen war sein Sinnen von frühesten Jahren an durch Musik angezogen und erfüllt, der er leidenschaftlich zustrebte, wo immer er ihrer teilhaftig werden konnte. Sein ganzes Sehnen richtete sich darauf, nach Absolvierung der Gymnasialbildung sich ausschließlich dem Musikstudium widmen zu dürfen. Schon während der Gymnasialzeit entstanden zwei originell erfundene Opern Schurichts, die er aber bescheiden als Erstlingsversuche auf diesem Gebiete zurückhielt, obwohl sie von urteilsfähigen Musikern als starke Talentproben erkannt wurden.

Die Wiesbadener Künstler Kapellmeister Gerhard, Hofkapellmeister Prof. Mannstädt, Kgl. Musikdirektor Prof. Otto Dorn und der gleich letzterem als feinsinniger Komponist bekannte Böhme Edmund Uhl wurden Schurichts erste Führer auf dem eingeschlagenen Pfad zu ernsten Musikzielen, so daß der kaum Zwanzigjährige schon einen Kapellmeister-Volontärposten am Mainzer Stadttheater erhielt. - 1902 vervollkommnete und erweiterte Schuricht seine Kompositionsstudien bei Heinrich van Eyken in Berlin (gest. Aug. 1908, Bild und Biographie erschien damals in der Neuen Musik-Zeitung). Zugleich wurde Schuricht in seinem emsigen Vorwärtsstreben durch Prof. E. Rudorff und Franz v. Mendelssohn gleichfalls sehr gefördert, die ihm ein vierjähriges Stipendium zusprachen. An dieses schloß sich das Stipendium der Kuczinsky-Stiftung für Komposition. Sämtliche Lehrer waren einig in der Beurteilung und Hochschätzung von Schurichts ungewöhnlicher Begabung. - Welch eminente Auffassungskraft der Künstler besitzt, erhellt das Beispiel: er las beim Studium jede Partitur aufmerksam durch, um sie dann Stück um Stück ohne Irrtum aus dem Gedächtnis von Anfang bis zu Ende nachzuschreiben und sie auf diese Art beim Dirigieren vollkommen frei zu beherrschen. Es sind das vielleicht manche bedeutende Dirigenten imstande, keiner kann es aber gewissenhafter und zuverlässiger tun, keiner mit tieferem seelischem Aufgehen in dem jeweils wiederzugebenden Werk, als Karl Schuricht.

Henri Marteau und Max Reger besonders waren es, die ihm in freundschaftlichster Weise die Wege zu ebnen suchten, indem sie seinen künstlerischen Wert früh erkannten. Auch der ebenso ideal denkende wie handelnde Dichter Fritz Lienhard schenkte dem so viel jüngeren Tonkünstler, der zu manchen gedichten und Dramen Lienhards warmempfundene Musik schrieb, seine in Leid und Freud teilnehmend-fördernde Freundschaft; - all dies sei nur flüchtig erwähnt, um das auf reinster idealer Basis, dabei aber sich in ganz entschiedenen Linien bewegende Wesen Schurichts etwas zu kennzeichnen.

Von 1906 ab wirkte Schuricht als Dirigent am Philharmonischen Orchester zu Dortmund (vertretungsweise), am Kurorchester zu Kreuznach (mit H. Sauer alternierend) und zu Goslar als Leiter der Oratorien- und Männerchorkonzerte - überall mit gleich starkem Erfolg.

An verschiedenen Orten hatten Schurichts erste Orchesterwerke: "Herbstmusik", "Nordische Fantasie" bereits glänzende Aufnahme gefunden. Sehr dankbare Konzertstücke sind seine Präludien und eine Klaviersonate, sowie eine Anzahl von Liedern (Dreililienverlag, Berlin): modern, gedankenreich und ursprünglich in der Erfindung; viele seiner reizvollsten Tondichtungen harren noch der Herausgabe. Hoffentlich läßt die Dirigententätigkeit (auch für nächsten Winter wird der Rühlsche Verein, ebenso wie die Wiesbadener Zyklus- und Symphoniekonzerte unter seiner Leitung stehen) dem Künstler noch genügend Zeit innerer Sammlung für eigenes Schaffen, dann wird man seinen zukünftigen Werken mit vieler Erwartung entgegenzuschauen berechtigt sein; - er wird uns jedenfalls Gediegenes bringen, denn Schuricht bewegt sich niemals auf der Heerstraße des Alltäglichen.

Die Symphoniekonzerte, die Schuricht bereits diesen Winter probeweise im Wiesbadener Kurhaus dirigierte, haben es bewiesen, daß unter seiner feurigen Leitung unsere vortrefflich bewährte Kurkapelle sich in gleichem Maße hinreißend inspirieren läßt, wie unter jedem der allernamhaftesten Gastdirigenten. Man sieht demnach in Wiesbaden einer in Gehalt und Ausführung ganz besonders wertvollen neuen Konzert-Aera entgegen. Um das Publikum würdig auf das Hören großer Tonschöpfungen vorzubereiten, hat Kapellmeister Schuricht seit vorigen Winter hier Vortragszyklen veranstaltet, die das Wesen der Symphonie, von den Klassikern bis auf die Neuzeit, sowie Einzelwerke von Brahms, Reger, Strauß (Domestica) usw. in Wort und Ausführung an zwei Flügeln behandeln. Auch damit hat er sich bereits eine treue und dankbare musikalische Gemeinde hier geschaffen, da er sich als Redner und Pianist nicht weniger fesselnd zeigte, wie am Dirigentenpult.


Tony Canstatt.

Neue Musik-Zeitung 33 (12), 257-258, 1912

Typed out by Dr. Gaël Rouillé.


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