Es ist vielleicht kein Zufall, daß einem Dirigenten wie Carl Schuricht gerade jetzt eine immer größere Geltung in weiten Teilen des Reiches zuteil wird, wo auf allen kulturellen Gebieten die Frage nach neuer Führung und nach einer fruchtbaren erzieherischen Arbeit auf lange Sicht brennend geworden ist. Denn es ist bezeichnend für ihn, daß er, obwohl er auch im Ausland, in Amerika, England, vor allem in Holland (wo er seit 1930 die Scheveninger Sinfoniekonzerte leitet) in hohem Ansehen steht, das sich gleicherweise auf den Künstler wie auf den Menschen erstreckt, doch seine Kraft 20 Jahre hindurch vorwiegend darauf verwandt hat, langsam und stetig das Musikleben einer einzigen Stadt zu fördern und auszubauen. Möglicherweise wirkt hier die gute handwerkliche Musiktradition nach, in der der 1880 Geborene als Sohn eines Danziger Orgelbaumeisters aufgewachsen ist. Sicher ist, daß ihn seine menschliche und geistige Eigenart schon sehr früh dazu gebracht hat, eine auf lange Sicht angelegte erzieherische Musiktätigkeit den Augenblickserfolgen des Gastdirigentendaseins überzuordnen. Nach Studien bei Humperdinck und Rudorff und kapellmeisterlichen Lehrjahren (die ihn auch das einzige Mal mit der Oper in Berührung brachten) in Mainz, Zwickau, Dortmund und Goslar findet er zunächst in Frankfurt (Rühl'scher Oratorienverein) als Nachfolger von Siegfried Ochs, dann in Wiesbaden, wohin er 1912 berufen wird und wo er seitdem wirkt, einen so gearteten Wirkungskreis. Hier baut er die städtischen Sinfonie- und Chorkonzerte im Kurhaus aus und führt sie zur heutigen Höhe, von diesem Zentrum aus wächst sein Ruhm und sein Tätigkeitsfeld, so daß er - nach Gastkonzerten in Hamburg, Hannover, Mannheim, Stuttgart, Dresden, Chemnitz, Düsseldorf, Wien usf., und Reisen nach Amerika und England, Holland und Skandinavien - heute in größerem Umfange in Wiesbaden, Leipzig, Scheveningen und (neuerdings) Berlin wirkt. -
Für die Art musikalisch-kultureller Wirksamkeit, wie sie Schuricht in Wiesbaden vor allem geübt hat, genügt nicht die glänzende Dirigierleistung oder das musikantische Besessensein für den Augenblick. Entscheidend ist hier, daß jede Einzelleistung, überhaupt alles Einmalige auf das Ganze der geschauten Kulturidee bezogen und ausgerichtet ist. Wo aber alle Kräfte von Führung und Gefolgschaft, von musikalischem Leiter, Ausführenden und Publikum immer auf ein Ziel hin angespannt sind, ist fast noch wichtiger als die künstlerische Leistung die geistige und menschliche Haltung, die allein über die Faszination des Augenblicks hinaus verpflichtend wirkt und vermöge derer allein Schuricht das gesteckte Ziel in Wiesbaden hat erreichen können. Es ist damit nicht nur die persönliche Liebenswürdigkeit und Vornehmheit, auch nicht die Güte und Hilfsbereitschaft gemeint, deretwegen er von allen, die mit ihm in Berührung kamen, hoch geachtet und verehrt wird, - noch weniger soll an das zutiefst Menschliche gerührt werden, aus dem Wesen und Wirken gleichermaßen fließen. Was wichtiger ist: er vermag nicht nur im persönlichen Verkehr, sondern bei der Werkausübung selbst die Kluft, die Dirigent und Orchester trennt, zu überbrücken, er vermag die Ausübenden einzubeziehen in die geistige Ausgestaltung des darzustellenden Musikwerkes, sodaß aus dem willenlosen Instrument "Orchester" eine sich ihrer Aufgabe bewußte Werkgemeinschaft wird. Man muß erlebt haben, wie etwa Schuricht in der Probe, um eine geistige Vertiefung von R. Strauß' Tondichtung zu erreichen, seine Musiker mit Nietzsches Zarathustradichtung bekanntmacht, und wie diese Musiker ihm gespannt zuhörten, - oder wie er ihnen die Abschiedstimmung in Bruckners letztem Adagio so nahebringt, daß bei der Wiedergabe dann ein geradezu überirdisches Ausklingen zustande kommt: Hier tritt neben die suggestive Geste die geistige Aufhellung durch das gesprochene Wort, und nicht etwa nur als Mittel zur begrifflichen Verdeutlichung des musikalischen Vorganges, sondern auch als reiner Ausdruck der menschlichen und geistigen Verbundenheit von Dirigent und Orchester.
Hierdurch erst ist eine Erklärung dafür gegeben, daß Schuricht einer unserer besten Orchestererzieher und Chordirigenten ist. Er hat sich bei der Arbeit mit dem Kurorchester und dem Chor in Wiesbaden, mit dem Leipziger Sinfonieorchester und jüngst mit dem Philharmonischen Chor in Berlin gezeigt, wie er durch intensive Arbeit die Fähigkeiten jedes Einzelnen gesteigert und Orchester und Chor zu erstklassigen Klangkörpern herangebildet hat. Das ist nur möglich, wenn dem Orchesterführer immer die Erziehungsidee als gültiges Bild vor Augen steht, wenn ihm aus innerer Verbundenheit heraus willig Gefolgschaft geleistet wird, und wenn einer solchen Wechselwirkung eine geruhige Entwicklung und eine geschlossene Hörergemeinschaft gesichert ist. Selbstverständlich ist dabei, daß dem, der solcher erzieherischen Tätigkeit mächtig ist, auch sämtliche dirigiertechnischen Mittel zu Gebote stehen, um das geschaute Bild in der Werkausdeutung realisieren und den darauf gerichteten Willen dem Orchester deutlich machen zu können.
Aber auch an dieser wunderbar klaren Zeichengebung, bei der immer die rechte Hand präzise das Taktbild vermittelt, während die Linke die Dynamik des innermusikalischen Geschehens lenkt und leitet, wird ersichtlich, daß nichts der durch die Stimmung und das seelische Befinden bedingten Augenblickseingebung überlassen wird, sondern daß jede Wirkung, weil sie aus dem intensiven Studium des Werkes geschöpft ist, sich immer gleich bleibt. Das heißt: Das Werk prägt seine unabänderliche Gesetzlichkeit der Wiedergabe so auf, daß der Dirigent - hier nicht Schöpfer, sondern Mittler - nur bestrebt sein kann, ihr immerwährend zu reinem Ausdruck zu verhelfen. - Das Verhältnis von Werk und Wiedergabe ist an sich vielschichtiger, als an solcher Gegenüberstellung ersichtlich wird. Schuricht selbst, der sich immer aus einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Geist Rechenschaft abgelegt hat über die eigentümliche Mittlerstellung des Dirigenten, hat kürzlich gesagt, er könne jetzt, nach einer langen Zeit der kapellmeisterlichen Tätigkeit, beobachten, daß das Werk sein Antlitz verwandle in dem Verhältnis, wie die zunehmenden Lebensjahre den Menschen reiften, der sich um das Erfassen des Werkes bemühe . . . Das bedeutet keinen Widerspruch zu dem, was von der unveränderlichen Wiedergabe gesagt wurde; es rührt an die ungelöste Frage, wie überhaupt Subjektivität und Objektivität sich zueinander verhalten. Aber kennzeichnend für das Werkverhältnis des Dirigenten ist doch die Willensrichtung: Ob er nämlich, der die eigentümliche und verantwortliche Aufgabe hat, das, was sich in der Partitur objektiviert hat, wieder loszulösen und in sein klingendes Element überzuführen fähig ist, um das, was im Werk objektive Gestalt geworden ist, gleichsam zu kreisen und sich "in wachsenden Ringen" auf immer neuen Stufen dem, was sich gleich bleibt, aber so einer reifenden Menschlichkeit einen immer neuen Anblick gewährt, zu nahen, oder ob er in dem Werk den Widerstand sieht, an dem sich das eigene autonome Wesen bewähren kann.
Die Entscheidung fällt so eigentlich in der religiösen Sphäre, aber sie prägt sich mit größter Deutlichkeit in der Kunstausübung aus. Wenn es Schuricht gelingt, sich in jeden Klangstil einzuleben und aus dieser Einfühlung heraus die verschiedensten Werke zu eindringlichster Wirkung zu führen, so beruht das - ganz abgesehen von der sachlichen Hingabe an die winzigsten Einzelheiten, die alle mit peinlicher Genauigkeit als kleine lebenswichtige Glieder im Großen Organismus zum Klingen gebracht werden - auf der Achtung vor dem Kunstwerk als einer reinen, unverletzlichen Gesetzlichkeit, die nicht erst dem eigenen Empfinden zurechtgemacht werden muß, der nur mit Einsatz der letzten Kräfte aller Mitwirkenden zu dienen ist. Nichts spricht mehr für solche Einfühlung, als daß auch solche Musikwerke, denen wir heute fremd gegenüberstehen, weil wir, aus ebensolcher Gesinnung heraus, Musik nicht mehr als Ausdruck allzupersönlicher Gefühle und Leiden, sondern als sich selbst genügendes geistiges Geschehen erleben, - daß so auch Werke z. B. der Programmusik menschlich zu überzeugen vermögen; nichts spricht mehr dafür, als daß Schuricht aber auch jenseits der ein menschliches Eindringen voraussetzenden Musik einfach und unbelastet in einer herrlich beschwingten Art zu musizieren vermag.
Auch wäre von seiner Beethoveninterpretation zu sprechen, die allerstrengste männliche Sachlichkeit mit einer ungeheuren Besessenheit paart, und es wäre darauf hinzuweisen (was ihm auch zu einem besonderen Ruhm verholfen hat), wie er die ineinandergeschachtelten Formen der Brahms-Sinfonien einfach werden läßt und die oft etwas abstrakte Tonsprache zu einer erregenden Lebendigkeit bringt. Wie er aber im Letzten zum Werk steht, und was der tiefste Kern seiner menschlichen und geistigen Persönlichkeit ist, das zeigt sich in voller Reinheit, wenn er Bruckner interpretiert. Unter seinen Händen wird die vielschichtige Polyphonie in ihren feinsten Veräderungen durchsichtig, und der ungeheuer getürmte Sinfoniebau, der in der Problematik seiner Form wohl noch jeden Dirigenten geängstigt hat und an dem jeder scheitert, der ihn seiner Subjektivität anzugleichen sucht, - er gewinnt hier jene Einfachheit und Notwendigkeit, die das Kennzeichen der Vollkommenheit ist. Wenn bei aller Ausdrucksmusik der Wille über das Gelingen entscheidet: hier, bei dieser Musik, die nur reine, aus sich selbst quellende Musik ist, der mit Temperament und Willkür nicht beizukommen ist, entscheidet allein die Begnadung. Nur wer der inneren Sammlung fähig ist, die diese feierlichste Musik erfordert, nur wer imstande ist, das eigene Ich in gelassener Ruhe beiseite zu tun, um dem Mysterium, das sich in gestaltgewordener Musik offenbart, zu dienen, nur wer in diesem besonderen Sinne "in der Gnade" steht, vermag dieser Musik zu reinem Erklingen zu verhelfen.
Als Schuricht im vorigen Frühjahr seine Tätigkeit in der Leipziger Alberthalle aufgab, verabschiedete er sich mit Bruckners Neunter Sinfonie, - dies das letzte und sichtbarste Zeichen von dem, was er in Leipzig (wie seit langer Zeit schon anderswo) für Bruckner getan hat.*) Wie er an diesem Abend in innerer Ergriffenheit und doch mit einer ruhigen Gelassenheit der Gebärde die letzten Geheimnisse dieser transzendenten Musik enthüllte, - das zeigte noch einmal, in einem Augenblick zusammengefaßt, was Wesen und Kern seines Seins und Tuns ist. Die Liebe aber, die ihm aus Orchester und Hörerschaft entgegenschlug, das ergriffene Schweigen, das nach dem Schlußadagio die Menge der Hörer - einfache Menschen, Arbeiter, Kleinbürger - in Bann hielt, konnten kundtun, daß die Kluft zwischen Orchester und Dirigenten einerseits, zwischen Ausübenden und genießendem Publikum andererseits schon da überbrückt ist, wo von jeder Seite, führend und ausführend und hörend, in rechter Weise dem Werk gedient wird. Wenn dem Konzert, der Institution, vermittels derer das Bürgertum Musik in das Gesellschaftsleben einbezog, in der kommenden Musikkultur auch nicht die Bedeutung zukommen dürfte wie den kleinen Zellen der Volksgemeinschaft, die als Singkreise und Spielgemeinschaften oder in kultischer Musikausübung der Musik wieder in tätiger Haltung gegenübertreten, so werden doch immer daneben die großen unvergänglichen Werke der Musik sich in wahrhafter Feier dem ganzen Volk erschließen, und Aufgabe des Dirigenten wird es sein, gleichsam die großen Bilder aufzustellen und zu ihnen hinzuführen. Es wird dann aber nicht selbstherrlicher Einzelmenschen bedürfen, die die Ausdeutung des Werkes für wichtiger halten als das Werk selbst, vielmehr solcher, wie Schuricht einer ist: die verbunden sind der Musiziergemeinschaft und durch reinen Dienst am Werk auch die Hörergemeinde zu verbinden wissen.
*) Da die Verdienste, die Schuricht gerade in dieser Hinsicht sich in Leipzig erworben hat, in dem Aufsatz, der sich seinerzeit mit der Brucknerpflege in Leipzig befaßte (ZFM, Oktober 1933), nicht erwähnt wurden, sei hier auf ausdrücklichen Wunsch des Verfassers Dr. Th. Armbruster mit Nachdruck auf sie hingewiesen.
Zeitschrift für Musik 101, 610-612 (1934)