Karl Schuricht

Von Prof. Otto Dorn, Wiesbaden

Es mögen wohl mehr als 20 Jahre her sein, daß ein zartgebauter doch rühriger Jüngling - dessen feingeschnittene, idealische Züge sofort den angehenden Künstler verrieten - bei mir eintrat und mein Urteil über eine von ihm komponierte Klaviersonate erbat, die er sofort mit großem Schwung vorspielte. Es war Carl Schuricht, damals von seiner Vaterstadt Danzig nach Wiesbaden verschlagen, wo er schon allerlei Unterricht genommen, das meiste und beste aber - aus sich selbst geschöpft hatte. Unmöglich, seinem werbenden Wesen, seinen Worten und Tönen zu widerstreben. In wiederholten Besuchen wurde die Sonate von Grund auf durchgearbeitet (sie ist später im "Drei-Lilien-Verlag", Berlin erschienen); Lieder und Klavierstücke folgten: Alles funkelte von Talent. Und doch konnte ich schließlich dem jungen Künstler nur den Rat geben, den ich ernststrebenden jungen Wiesbadener Talenten stets zu geben pflege: Fort von hier! Denn von Wiesbaden meinte schon der Altmeister Goethe, daß "das Leben dort zu leicht, zu heiter sei, als daß man nicht verwöhnt werde fürs übrige Leben, und er 'mögte' daher nicht zu oft hinreisen"... Also auf nach Berlin! Mit guten Empfehlungen ausgerüstet, zog Schuricht von dannen und wurde in den Kreisen Meister Joachims mit offenen Armen empfangen. Seine Begabung erregte Aufmerksamkeit; namentlich war es der feingeistige Ernst Rudorff, daneben Männer wie Humperdink, Siegfried Ochs und - nicht zu vergessen - die kunstgebildeten Gebrüder Mendelssohn, des großen Felix' musikalische Neffen, welche dem Aufstrebenden fördernd und stützend die Hand reichten. Stipendien der "Franz-Mendelssohn-Stiftung" und der "Paul-Kuczynski-Stiftung" taten das Weitere...

Wie durch Zufall geriet Schuricht in die praktische Dirigentenlaufbahn. In Danzig galt es ein von seinen dortigen Freunden und Gönnern (der treffliche Dr. Carl Fuchs vor allen) arrangiertes Orchesterkonzert zu leiten; aus dem einen wurden mehrere; von Danzig gelangte er in Vertretung beurlaubter Dirigenten nach Kreuznach und Dortmund und wirkte dann eine längere Zeit als Musikdirektor in Goslar. Und so stark fühlte er jetzt seine Schwingen gewachsen, daß er es wagen durfte, sich, kaum 30 jährig, um die eben erledigte Dirigentenstelle des altberühmten "Rühlschen Gesangvereins" in Frankfurt zu bewerben! Er siegte über die andern Konkurrenten. Und mit dem ersten Konzert war sein Ansehen als wahrhaft berufener Dirigent entschieden; jedes neue Konzert - es galt meist selten gehörten Werken von Taubmann, Delius, Reger, Pierné usw. - mehrte seinen Ruhm; die "Frankfurter" gingen für ihn durchs Feuer!

Nun, von Frankfurt nach Wiesbadn ist's nur ein Katzensprung. Damals (1912) wurde durch den plötzlichen Abgang Affernis die Stelle des Wiesbadener Kurkapellmeisters frei. Schuricht war kurz zuvor mit seinem "Rühl-Verein" nach Wiesbaden gekommen und hatte hier Beethovens "Missa Solemnis" zur Aufführung gebracht. Es war wie eine Offenbarung. Die Energie und Umsicht des jungen Dirigenten, die suggestive Macht, die er auf Chor und Orchester ausübte, und der große Zug seiner Auffassung und Ausdeutung hatten förmliche Begeisterung hervorgerufen. Kein Wunder daher, daß jetzt bei der Frage einer Neubesetzung unsrer "Kurkapellmeister"-Stelle sofort Schurichts Name auf allen Lippen lag. "Helfen Sie mir nur in den Sattel -" rief Schurichts mir zu - "reiten werde ich schon können!" Die Sache aber hatte ihren Haken. Ein Kurkapellmeister - das war nichts für unsern Feuergeist. Es mußte für ihn erst die Stelle eines "Städtischen Musikdirektors" neu geschaffen werden: Schuricht sollte nur einen kleinen Teil der Kurkonzerte übernehmen und auch diese durch sinfonische Programme wirksamer ausgestalten, im übrigen sich aber ganz nur den ernsten künstlerischen Aufgaben widmen. So trat er sein Amt an. Nachdem ihn auch unser "Cäcilien-Verein" zu seinem Dirigenten gewählt, steht der Künstler heut im Mittelpunkt unsres Wiesbadener Musiklebens. Seiner geistigen Regsamkeit als Dirigent sind kaum irgendwelche Schranken gesetzt: Klassisches, Romantisches, Modernes umfaßt er mit gleichem Verständnis, mit gleicher Hingabe. In besonderen "Vorträgen mit Erläuterungen am Klavier" pflegt er für neue Werke den Boden zu ebnen. Am Pult ist er die gestraffte Energie selbst. Seine anfangs oft überschwengliche Pantomimik ist jetzt, wo er sich auf "seine Leute" unbedingt verlassen darf, auf ein Mindestmaß beschränkt, gerade genug, um Ausführende und - Zuhörer zu überzeugen: Hier steht ein Mitschöpfer am Kunstwerk, einer, der mit der Sicherheit des erfahrenen Praktikers die schwunghafte Frische des Enthusiasten vereinigt. Was er auch dirigiert - man glaubt ihm alles.

Zeitschrift für Musik 87, 44-45, 1920

Typed out by Dr. Gaël Rouillé.


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